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„Ich hätte noch ein paar Kilowatt, Herr Nachbar!?“

Strom gegen Geld ins Nebenhaus liefern – und bei Bedarf geliefert bekommen: Das will ein visionäres AÜW-Projekt fördern. Alles, was es dazu braucht, ist ein radikal anderer Energiemarkt.

Bäcker Huber hat es eilig: Das Nachbarhaus hat ihm gerade billigen Solarstrom vom Dach verkauft, eine Stunde lang, dann sagt die Wettervorhersage Wolken und damit höhere Energiepreise voraus. Also schmeißt er den Backofen für die Nachmittagsbrezen an. Das Mehrfamilienhaus gegenüber schießt auch noch ein wenig Strom dazu, dafür wird dort die Heizung eine halbe Stunde heruntergefahren – und all das läuft vollautomatisch.

So oder so ähnlich könnte in wenigen Jahren die Energieversorgung im Allgäu ablaufen. Damit aus diesem Szenario Wirklichkeit wird, hat AÜW das Projekt pebbles gestartet, mit dem der lokale Austausch von erneuerbaren Energien gefördert wird. Projektleiter Christian Ziegler erklärt pebbles so: „Eigentlich ist es ganz simpel: Ich kaufe von meinem Nachbarn Strom, das ist die Idee. Nur ist es dann in der Realität doch nicht so banal …“

Von Nachbar zu Nachbar

Während ich mit Herrn Ziegler telefoniere, sitze ich in meinem neuen Haus, das wir mit zwei befreundeten Familien in Partenkirchen gebaut haben – wenigstens mit Blick auf die heimatlichen Ammergauer Alpen, den östlichen Rand des Allgäus. Ein kalter Wintertag, aber die Sonne scheint, und die Photovoltaikkollektoren auf unserem Dach erzeugen fleißig Strom. 0,47 Kilowatt zeigt mir die App an. Verbrauchen tut das Haus aber gerade nur 0,21 Kilowatt, der Überschuss geht ins Netz. Er könnte aber auch direkt an meinen Nachbarn gehen, wenn der gerade die Spülmaschine laufen lassen oder Mittagsbrezen backen wollte. Und wenn es pebbles schon gäbe. Selbst gemachten Strom dem Nachbarn verkaufen, zum „Prosumenten“ für lokale Energie werden, wie das so schön neudeutsch heißt, also zu einer Mischung aus Produzent und Konsument – die Idee ist naheliegend.

Nur, warum geht das bislang nicht? Was ist daran so kompliziert? „Technisch eigentlich nichts“, sagt Ziegler. Ich müsste nur mal eben ein Energieversorgungsunternehmen gründen, Rechnungen schreiben – samt Zählernummer und Angaben zum produzierten und verkauften Strom, dem Kunden außerdem eine Versorgungsgarantie einräumen und die staatlichen Umlagen kassieren und weiterreichen. „Das macht keiner, weil der Aufwand viel zu groß ist“, erklärt Ziegler. Nun will aber pebbles genau das möglich machen – mithilfe der Blockchain-Technologie (siehe Kasten S. 20). Weniger Energieverlust durch langen Leitungstransport, bessere Netzauslastung, mehr erneuerbare Energien zu günstigeren Preisen: All das soll diese neue Handelsbörse für lokalen Strom fördern.

So etwas wie Airbnb – nur für Strom

Als Christian Ziegler, gebürtiger Oberstdorfer, 2004 nach Berlin ging, um Umwelttechnologie zu studieren, konnte er von einer lokalen Energieplattform noch keine Ahnung haben. Damals gab es nur zwei Studiengänge der Art im Land, er war ein echter Pionier. „Aber mir war das Thema erneuerbare Energien immer schon superwichtig, sonst hätte ich das nicht studiert“, sagt er. „Und wenn ich heute meinen kleinen Sohn anschaue, dann ist es mir schon ein Anliegen, ihm eines Tages eine Welt übergeben zu können, die lebenswert ist. Erneuerbare Energien sind essenziell, damit wir überhaupt weiterhin auf der Erde überleben können.“ Ursprünglich hatte sich Ziegler in das Thema Windkraft verliebt, wie er sagt: die großen Maschinen, das Arbeiten in großen Höhen am Seil – was einem halt so wichtig ist als Allgäuer. Irgendwann ließ er Berlin Berlin sein, wollte zurück in die Berge. Erst ging es nach Tirol und dann nach Kempten, zum AÜW. Offiziell seit 1. März ist Ziegler dort nun zuständig für das pebbles-Projekt. Kraftwerke und Energieparks bauen und betreiben, Strom herstellen und diesen an Privathaushalte und Firmen verkaufen: Das ist die traditionelle Aufgabe von Energieversorgern.

Warum also sollte ein Unternehmen wie AÜW Privatleute oder Firmen beim Austausch von selbst produziertem Strom unterstützen, welches Interesse hat AÜW daran? „Aus herkömmlicher Sicht betrachtet: gar keines“, sagt Stefan Nitschke. „Aber wir schauen uns ja um in der Welt. Und lieber attackieren wir selbst unser heutiges Geschäftsmodell, als dass das jemand anderes macht.“ Nitschke ist erstens Berliner, der schon vor einigen Jahren nach Oberstdorf gezogen ist – also in einer Art Gegenbewegung zu Christian Ziegler. Und er ist zweitens, neben anderen Aufgaben, Sprecher des AÜW-Innovationsboards, das auf strategischer Ebene neue Geschäftsmodelle und -felder entwickelt. „In den vergangenen Jahren sind viele digitale Plattformen aus dem Boden geschossen, die mit Dingen handeln, die ihnen gar nicht gehören. Beispiele wie Uber als Transportunternehmen ohne eigene Taxis, Airbnb als Vermittler von Übernachtungen ohne ein einziges Bett oder natürlich Ebay als Marktplatz ohne eigene Waren.

„Mit pebbles erproben auch wir den Aufbau einer erfolgreichen digitalen Plattform, auf der wir Menschen miteinander verbinden und sie ihre Energie direkt untereinander handeln können“

Stefan Nitschke

Die Musikindustrie ist da ein warnendes Beispiel: Die großen Plattenfirmen haben das Geschäft mit Musikdownloads und -streamings schlicht verpasst – und wurden überholt von Firmen wie Apple, Spotify und Co. Wenn Unternehmen wie AÜW nun dieser Gefahr in der eigenen Branche vorbeugen wollen, müssen sie sich auf diese sogenannte Plattformökonomie einstellen – und anfangen, mit Dienstleistungen zumindest einen Teil ihrer Umsätze zu machen. Neben der Versorgungssicherheit, die natürlich bis auf Weiteres durch die Energieunternehmen zu gewährleisten ist, wenn etwa mal keine Sonne auf die privaten Dachkollektoren scheint. Ziegler selbst hat natürlich eine Photovoltaikanlage auf dem Dach. Bis er seinen überschüssigen Strom über die pebbles-Börse an den Nachbarn verkaufen oder von ihm beziehen kann, wird es noch dauern – circa drei bis fünf Jahre, schätzt er. Erleichtert und beschleunigt würde der nachbarliche Stromaustausch, wenn zum Beispiel der Bund zur Erreichung der Klimaziele die Teilnahme an Energiebörsen wie pebbles verpflichtend vorschriebe.

Oder wenn er Privatleuten – ähnlich wie beim Steuerfreibetrag – die Abgabe haushaltsüblicher Strommengen ohne großen bürokratischen Aufwand ermöglichte. Das ist der Knackpunkt: „Im Moment gibt es einfach noch nicht die rechtlichen Möglichkeiten, um lokalen Strom schnell und wirtschaftlich auszutauschen“, sagt Ziegler. Weil das Projekt so innovativ ist, hat AÜW vom Wirtschaftsministerium Fördergelder zugesagt bekommen. Die rund sieben Millionen Euro, die pebbles kosten wird, werden zur Hälfte über Beihilfen abgedeckt. Mit dabei sind unter anderem Siemens, das Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT, die Hochschule Kempten und der Leitungsverbund AllgäuNetz. Alles Partner, mit denen AÜW bereits seit vielen Jahren den Technologiecampus in Wildpoldsried betreibt, der das Stromnetz der Zukunft simuliert und an dem bereits mehrere Batteriespeicher, Photovoltaikanlagen und reale Haushaltskunden angeschlossen sind. Anfang 2020 sollen schließlich die ersten Haushalte an pebbles angeschlossen und kurz darauf die ersten Stromverkäufe über die Plattform abgewickelt werden. „Anfangs liegt der Fokus nicht auf der Wirtschaftlichkeit, sondern vielmehr darin zu sehen, wie Kunden damit arbeiten, ob sich Kauf- und Nutzerverhalten verändern, ob es Auswirkungen auf das Stromnetz gibt. Zudem erarbeiten wir eine Vorlage, welche gesetzlichen Anpassungen nötig sind, damit Privatkunden untereinander Strom handeln können“, sagt Nitschke, „mittelfristig sehen wir darin aber ein weiteres Geschäftsmodell, das erfolgreich sein kann.“ Erst in den darauffolgenden fünf bis sieben Jahren, so schätzt er, werde absehbar sein, ob das Projekt auch Renditen abwirft. Früher ist unrealistisch, und das liegt eben im Pilotcharakter von pebbles: „Wir beschäftigen uns hier mit Antworten auf Fragen, die sich viele noch gar nicht stellen.“

Zukunftsmodell Allgäu

Die Zukunft der Stromversorgung wird ausgerechnet im Allgäu erfunden? Ist vielleicht gar kein Zufall. Bereits heute werden im Oberallgäu und in Kempten rund 41 Prozent des benötigten Stroms aus regenerativen Energien gewonnen – im Bundesdurchschnitt sind es lediglich 28 Prozent.

Das Allgäu hat viel Sonne und damit viel Potenzial für Photovoltaik. „Und wir sind eben schon ein Landstrich, in dem die Menschen sehr verbunden sind mit der Natur“, sagt Ziegler – „man schaut hier schon sehr darauf, woher die Dinge kommen, die man konsumiert.“ Der Erfolg von regionalen Lebensmitteln beweist es. Der regionale Strom, von dem man weiß, wo er herkommt, ist da eigentlich nur der logische nächste Schritt.

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